Das Evangelium im Zusammenbruch

Ich sagte, die Entscheidung über Sein oder Nichtsein der Kirche vollzog sich im Zusammenbruch des 3. Reiches. Die NS-Kirchen- und Religionspolitik, deren Zielsetzung immer klarer hervortrat, nämlich "das Christentum geistig zu überwinden, organisatorisch verkümmern zu lassen und politisch ohnmächtig zu halten" (Rosenberg), sprich: es verschwinden zu lassen, war mit der bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945 zu Ende.

Das war Befreiung. Welchen Raum, welche äußeren Bedingungen, welche Menschen fand die neue Freiheit vor? Diese Frage sollten wir nicht übergehen.

"Zusammenbruch" wurde nach der Kapitulation ein gängiges Wort. "Zusammenbruch des 3. Reiches" klingt wie ein historischer Fachterminus, schließt aber eine Katastrophe ungeheuren Ausmaßes ein, fast ohne Vergleichsmöglichkeiten, allenfalls in den Gräueln des 30-jährigen Krieges.

Zusammenbruch steht für nie gekanntes Elend, für Massensterben, Trümmer, Sinnlosigkeit, Gefangenschaft, Zerstörung aller Lebensgrundlagen, Verlust der Heimat, Verlorenheit, Zukunftslosigkeit, das Gefühl, grausam betrogen zu sein. Für viele hatte sich das Leben reduziert auf die Frage: Wie schaffe ich den nächsten Tag? Im Chaos und äußerster Ungewissheit natürlich auch die Erleichterung: die unmittelbare Gefährdung durch Bomben, Tiefflieger und Durchhaltefanatiker ist vorbei. In dieser Erlösung aber auch die Frage: Welche Rechnungen müssen jetzt bezahlt werden?

Wie wird Hoffnung zugesprochen, wenn Hoffnungslosigkeit regiert? Wer richtet auf, wenn alles am Boden liegt? Wo ist Trost in der Trostlosigkeit? Wie wird das Evangelium als gute Botschaft verkündet, wenn es nur noch schlechte gibt? Das musste die vorrangige Herausforderung einer Kirche sein, die neu zum Evangelium befreit war.

Es ist Pastor Halfmann in Flensburg, dessen analytische Kraft sich schon im Kirchenkampf bewährt hatte, der jetzt eine bemerkenswerte theologisch-seelsorgerliche und homiletische Initiative ergreift und noch im Mai 1945, gleichsam auf gut Glück, bei eingestelltem Post-und Bahnverkehr, ein Rundschreiben an die Geistlichen in Schleswig-Holstein richtet: "Wie sollen wir heute predigen?"

Ohne besondere Amtsautorität, aber in vollmächtiger Erkenntnis dessen, was die Stunde fordert, leistet er in Verwirrung und Ratlosigkeit Hilfe zur geistlichen, im biblischen Wort gegründeten Orientierung - genau das, was die BK in der Zeit davor mit ihren Synoden, Verlautbarungen und Schriften getan hat. "Wie sollen wir heute predigen?" - darin sieht Halfmann zusammen mit anderen, die er konsultiert (Propst Hasselmann-Flensburg, Missionsdirektor Dr. Pörksen-Breklum, Propst Siemonsen-Schleswig), die 1. Aufgabe, das ist BK-Tradition, gleichzeitig zeichnet sich in dieser ersten gesamtkirchlichen Äußerung von Gewicht eine Tendenz ab: der Neuanfang ist nicht nur Sache der BK, sondern aller, die dem Evangelium verpflichtet sind.

Es ist nicht von ungefähr, dass Halfmann mit der Offenbarung des Johannes beginnt. Sie hatte im Kirchenkampf besondere Bedeutung gewonnen. Im Tier aus dem Abgrund ließ sich die NS-Schre­ckens-herrschaft erkennen, faszinierend und tödlich. Halfmann schreibt: "Die apokalyptischen Reiter sind losgelassen. Aber sie haben ihre Macht nicht aus sich selbst, sondern stehen unter himmlischem Kommando. Darum dürfen wir auch heute sagen: Ich aber, Herr, hoffe auf dich und spreche: du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen (Ps 31)."

Ein wichtiger Auftakt seines Rundschreibens: Wir stehen nicht an einem Abgrund, vor dem uns nur Apathie oder nihilistische Verzweiflung bleiben, sondern wir haben es zu tun mit Gottes Geschichte, aus der wir nicht herausfallen. Er bleibt ansprechbar.

"Die deutschen Menschen, von der größten Katastrophe unserer Geschichte geschlagen, brauchen Gottes Hilfe und Wahrheit wie das tägliche Brot. Wir Prediger aber, selber geschlagen und erschüttert, sollen sie darreichen als Gehilfen des Herrn ... Gottes Wort sollen wir predigen, von dem unser Herr sagt: Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. Wie wahr das ist, erleben wir jetzt im Untergang unserer Welt. Das Wort des Herrn ist geblieben." Und echt lutherisch fährt er fort: "Das ist unsere Aufgabe, das Wort recht zu teilen in Gesetz und Evangelium, Gerichts- und Gnadenwort, Buß- und Trostwort."

"Es geht darum, dass wir Gottes Erbarmen wirklich finden, und dass wir noch glauben dürfen an einen gnädigen Gott, und dass unser um alle Hoffnung betrogenes Volk nicht im Abgrund der Verzweiflung versinkt."

Dazu ist Buße nötig, ein wichtiges Stichwort, das nach Konkretion verlangt. "Sollen wir unsere Sünde konkret benennen?" Antwort: "Wenn es sich um unsere eigenen, der christlichen Gemeinde Sünden handelt, dann ja. Wenn es sich um Volkssünden handelt, dann: Vorsicht, dass wir nicht in der Schande wühlen, das werden andere als wir hinlänglich besorgen. Unsere Bußpredigt sei seelsorgerlich" - keine Anklage, keine prophetische Strafpredigt, "kein Salz in die Wunden reiben", "keine Würdelosigkeit vor dem Feind", auch "keine hämische Genugtuung über Feinde der Kirche", die jetzt sehen müssen, dass sie auf der falschen Seite gestanden haben.

"Evangelische Predigt muss Trost im Leid sein. Sie hat dabei den Blick gerichtet sowohl auf das individuelle Schicksal wie auf die Menschheitsgeschichte ... Vom göttlichen Weltplan her müssen wir Schicksal und Leiden der Gemeinde deuten, die auf der Pilgerschaft ist vom Kreuz zur Weltvollendung. Auch müssen wir wissen, was es um den Teufel und den Antichrist ist" - Halfmann öffnet ein weites geschichtstheologisches Feld, auf dem er angesichts von Leid und Trostlosigkeit den Auftrag der Kirche definiert.

Er schließt sein Rundschreiben, indem er die besondere Verantwortung, die die Kirche für unser Volk trägt, in 4 Punkten hervorhebt:

1. "Was wir einem trunkenen heidnischen Nationalismus nicht zugestehen durften, werden wir freiwillig dem unsäglich gedemütigten Volk geben: nämlich Anwalt und Fürsprecher und Stimme für unser Volk zu sein."

2. "Wir verstehen das Geschick unseres Volkes im Licht des biblischen Wortes." Halfmann verweist auf das apokryphe 2. Makkabäer-Buch, wo es in c. 6, v. 12-16 heißt: "Ich möchte die Leser ermahnen, sich durch diesen Jammer nicht entmutigen zu lassen, sondern zu bedenken, dass unserem Volk Strafen nicht zum Verderben, sondern zur Erziehung wiederfahren ... Gott nimmt seine Barmherzigkeit nie ganz von uns; und wenn er uns durch ein Unglück erzieht, lässt er doch sein Volk nie im Stich." Halfmann nennt diese spätjüdische Geschichtsdeutung locus classicus und nimmt sie für die Gegenwart in Anspruch, damit ist er wieder am Anfang seines Schreibens.

3. Eine Kirche, die sich zu dieser Gewissheit rufen lässt und sie zu ihrem Auftrag macht, ist eine Kirche der Freiheit, der freien, gottgebundenen Seelen. Und sie "wird zum Hort alles edlen geistigen, moralischen, kulturellen Lebens. Die Kirche in Deutschland wird vielleicht in naher Zukunft der letzte noch unverfälschte Ausdruck gewachsener deutscher Kultur sein". Halfmann ist sehr selbstbewusst und traut der Kirche für den inneren Wiederaufbau Deutschlands sehr viel zu, stellt aber diesen Stolz unter den Vorbehalt der Bergpredigt: Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes, so wird euch solches alles zufallen.

4. Die Kirche der Freiheit hat auch den freien Blick über die Grenzen und sucht den Austausch mit Christen und Kirche, "die uns brüderlich begegnen wollen ... Wir wollen für die ökumenischen Bestrebungen offen sein, weil wir dadurch auch etwas zur Entgiftung der Hassatmosphäre beitragen können".

Am Ende der Aufruf: Kauft die Zeit aus und dient so dem Herrn! Der Kairos ist da! Es ist ja etwas zu erfahren vom Platzregen Luthers, von der offenen Tür für das Wort in den übervollen Gottesdiensten und Andachten der allerersten Nachkriegszeit.

Ein bemerkenswertes erstes Signal, das Halfmann als Repräsentant der BK in Fühlungnahme mit anderen ins Land schickt: keine Klage, keine Beschreibung des Elends, keine Aufzählung der Hindernisse, die jedem Neuanfang im Wege stehen: zerstörte Kirchen, überbelegte Pastorate, Sperrzonen überall, auch kein Aufbauprogramm, keine Prioritätenliste dessen, was jetzt unbedingt praktisch zu tun ist, sondern: "Das Wort des Herr ist geblieben." Die Menschen brauchen es und haben Anspruch darauf. "Seid Diener des Wortes."

Das ist der Geist der BK. Das ist ihr innerstes Anliegen, das in der Verknüpfung von Situation und Botschaft zum Zuge kommt. Am Anfang steht ein "Dennoch" der ganz besonderen Art. So wollte die BK "Kirche der Freiheit" sein und nahm etwas vorweg, was erst Jahrzehnte später zu einem Reformprogramm erhoben wurde.