"Eine nach eigener Façon gestrickte Listenwissenschaft bietet keinen wirklich historischen Zugang zur Geschichte." (Andreas Müller)

Kritische Bemerkungen zur Dissertation von Helge-Fabien Hertz

Helge-Fabien Hertz, "Evangelische Kirchen im Nationalsozialismus. Kollektiv-biografische Untersuchung der schleswig-holsteinischen Pastorenschaft", 3 Bände, De Gruyter Oldenbourg 2022.

Die Studie liefert am Beispiel der schleswig-holsteinischen Landeskirche erstmals eine umfassende und ausgewogene Grundlage für die Verortung der evangelischen Geistlichkeit im Nationalsozialismus.

Sein zweiter Doktorvater, Professor Hering, sagt, in seiner gesamten Laufbahn sei ihm noch nie eine so herausragende Arbeit vorgelegt worden. "Herr Hertz hat eine Pionierstudie vorgelegt. Die Arbeit ist ein Meilenstein der Kirchengeschichtsforschung in Deutschland. Er hat alle Geistlichen sehr differenziert betrachtet, in einer Art und Weise, wie das noch nie jemand gemacht hat. Und hinzukommt, dass er neben den 2.000 Druckseiten eine Datenbank mit 6.000 Seiten angelegt hat, wo man über jeden Geistlichen, der während des Dritten Reiches aktiv tätig war, alles findet, was es zu ihm gibt."

Mit der Bereitstellung des digitalen Verzeichnisses wird keineswegs das Ziel verfolgt, die damaligen, heute zumeist unbekannten Pastoren postum zu diskreditieren, ebenso wenig jedoch sie zu heroisieren. NS-Kollaboration und Opposition sollen dort sichtbar werden, wo sie festzustellen sind. Durch das Negieren, Verschweigen oder Beschönigen der Mitwirkung am nationalsozialistischen Gesellschaftsprojekt wird das Leiden der Opfer bagatellisiert, durch ungerechtfertigte Helden-Stilisierungen die Leistung der tatsächlichen Widerstandspastoren gemindert. Ein verantwortungsvoller Umgang mit den sensiblen personenbezogenen Daten ist zwingend geboten und wird vorausgesetzt. Die Veröffentlichung möchte durch die Schaffung von Transparenz Erinnerung wachhalten, vorhandenes Interesse bedienen sowie neues Interesse wecken und so die weitergehende Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit der Kirchen langfristig fördern.

Kritische Stimmen

Andreas Müller, Historiografisch problematisch. Eine Kritik der Studie von Helge-Fabien Hertz zur NS-Vergangenheit von Pfarrern in Schleswig-Holstein, in: zeitzeichen August 2022:

Ein kritischer Blick auf die enge Verflechtung von Nationalsozialismus und Protestantismus ist nötig. Was aber Helge-Fabien Hertz zur NS-Vergangenheit von Pfarrern in Schleswig-Holstein in der Juniausgabe von "zeitzeichen" vorgelegt hat, sei quellenmäßig nicht ausreichend begründet, methodisch fraglich und unnötig moralisierend, meint der Kirchenhistoriker Andreas Müller von der Universität Kiel.

Die Untersuchung von Hertz, die gelegentlich mehr an Recherchen eines Staatsanwalts als eines Historikers erinnert, evozierte in zahlreichen Veranstaltungen Erschütterung und auch Entsetzen über die eigene Vergangenheit und wurde selbst in zeitzeichen bisher unkommentiert vorgestellt. ...

Ob man ... den Protestantismus als "tragende Säule" der Partei und ihres Unrechtsstaates bezeichnen kann, wäre intensiv zu diskutieren. ...

Die deutlichen Schwächen der Arbeit, die auch durch gleich zwei Doktorväter nicht haben vermieden werden können, liegen aber insbesondere in der historischen Auswertung der Quellen, die Hertz als kollektivbiografischen Ansatz bezeichnet. ...

Das größte Problem bei der Untersuchung von Hertz liegt aber darin, dass er wesentliche Unterlagen nicht berücksichtigt hat. ...

Die Chuzpe, mit der Hertz behauptet, dieses Narrativ ["Kirchenkampf"] zum ersten Mal gründlich hinterfragt zu haben, wird allerdings den vielen Arbeiten von Klaus Scholder bis hin zu Manfred Gailus nicht gerecht. ...

Ein weiteres deutliches Problem der Studie ist die mangelnde Berücksichtigung von Entwicklungen in der politischen Haltung von Pfarrern während des Nationalsozialismus. Viele Pfarrer, die sich 1933 begeistert für die Partei geäußert haben, sind oft schon 1934 von dieser Haltung deutlich abgewichen - das hätte noch viel deutlicher herausgearbeitet werden können. ...

Die mangelnden Differenzierungen zum Beispiel im deutsch-christlichen Flügel, aber auch innerhalb der "Bekennenden Kirche" sind in der Arbeit öfter evident. Die Behauptung, dass die Pfarrer das NS-Rassenkonzept 'breit akzeptiert' hätten, lässt sich nur dann halten, wenn man dieses sehr weit fasst. Ein differenzierter Widerstandsbegriff, wie er in der Zeitgeschichtsforschung erarbeitet worden ist, scheint Hertz fremd zu sein.

Letztlich fragt sich der Leser staatsanwaltschaftlich orientierter Geschichtswerke immer wieder: Was ist eigentlich der Erkenntnisgewinn? Ist es nicht wichtiger, zu verstehen, warum Protestantinnen und Protestanten sich dem Nationalsozialismus oft so nahe gefühlt haben, als mit Prozentsätzen und kaum ausgewerteten Kollektivbiografien eine Institution, die sich inzwischen selbst deutlich von ihrer Vergangenheit distanziert hat, vermeintlich zu kompromittieren?

Ein kritischer Blick auf die enge Verflechtung von Nationalsozialismus und Protestantismus schadet sicher nicht, aber er sollte quellenmäßig ordentlich begründet, methodisch wirklich reflektiert und nicht überheblich moralisierend ausfallen. Eine nach eigener Façon gestrickte Listenwissenschaft bietet keinen wirklich historischen Zugang zur Geschichte.

Schilling, Johannes: Rezension über: Helge-Fabien Hertz, Evangelische Kirchen im Nationalsozialismus. Kollektivbiografische Untersuchung der schleswig-holsteinischen Pastorenschaft. 1: Thesen, Grundlagen und Pastoren, Berlin; Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2022, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, 148 (2023), S. 319-324.

Fazit: "Geschichte ist kein quantifizierbarer Prozess, und das Entwerfen und Anwenden von Modellen ist keine Geschichtsschreibung. Die gepriesenen Doktorväter hätten den Kandidaten zu dem nötigen Respekt vor den Menschen, zu professionellem Studium an Quellen und zu vernünftiger methodischer Arbeit anleiten sollen."

Eine Hertz-Bemerkung im Sammelband "Multiplikatoren in der NS-Zeit. Schleswig-Holsteinische Pastorenbiografien" liest sich wie eine indirekte Antwort auf die Kritik von Müller und Schilling:

"Die Fokussierung der Autor*innen auf dieses 'partielle' (Rohlfes) historiografische Erkenntnisinteresse sollte nicht vorschnell und methodenvergessen mit vermeintlich staatsanwaltlicher Zielsetzung oder mangelnder Achtung vor den Individuen und ihrer Lebenswerke verwechselt werden."