Hermann Sasse, Kirchliche Zeitlage, in: Kirchliches Jahrbuch 1932; wiederabgedruckt in: Kirchliches Jahrbuch 1933-1944, S. 12-17.
"Gegenüber einem von Traditionen der BK geprägten Geschichtsbild geben die Deutschlandkarten, die eine sehr weitgehende Kongruenz zwischen der protestantischen Bevölkerung und dem Über-50%-Stimmenanteil der Nationalsozialisten bei der Reichstagswahl am 5.3.1933 aufzeigen, sehr zu denken" (Sebastian Borck in "Erinnern, was vergessen ist" unter Hinweis auf ein Buch von Olaf Blaschke).
Wie kam es zur Bekennenden Kirche?
Die Auseinandersetzung um Bischof Halfmann und die Bekennende Kirche wird Ihnen in Grundzügen bekannt sein. Sie hat deutlich gemacht, dass es hinsichtlich der BK Schleswig-Holstein Nachholbedarf an Erinnerung und Kenntnis gibt. Ganz offenkundig ist Versäumtes nachzuholen; nicht nur, um Vergangenheit aufzuklären, sondern auch, um den Blick auf Gegenwart und Zukunft zu schärfen.
Die Entstehung der Bekennenden Kirche hängt unmittelbar mit dem Nationalsozialismus und seiner Weltanschauung zusammen. Mit dem Nationalsozialismus verbinden sich zwei Begriffe, in denen sich das Selbstverständnis der NS-Herrschaft unmissverständlich und programmatisch ausdrückt: "totaler Staat" und "Gleichschaltung", nach der sog. Machtergreifung im Januar 1933 wurden sie immer selbstverständlicher gebraucht. Der NS-Staat verstand sich als ein politisches System, das umfassend und widerspruchslos "die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens" sein wollte, wie es ein Jahr später in der Theologischen Erklärung von Barmen knapp und abwehrend heißt. Neben diesem Staat darf es keine unabhängigen und selbständigen Kräfte, auf welcher Ebene auch immer, geben. Dieser totalitäre, sich alles unterwerfende Anspruch duldete keine Widerrede, keine Infragestellung, keine Kritik. Seine logische Konsequenz hieß: "Gleichschaltung". Alle gesellschaftlichen Institutionen, unabhängig von ihrer Größe und Relevanz, aber besonders die großen und das öffentliche Leben bestimmenden haben sich in den Dienst der nationalsozialistischen Sache zu stellen oder sie schweigend zu billigen. Das gilt für die Schulen, Presse, Medien, Justiz, kulturellen Einrichtungen, kommunale Verwaltungen, Vereine usw. Kein Lebensbereich ist ausgenommen, auch der der Kirchen nicht.
Für die Ev. Kirche entstand eine besondere Situation. Ihre traditionelle Staatsverbundenheit war mit dem Ende der Monarchie 1918 abrupt und schmerzlich abgebrochen, Die Weimarer Republik, zu der man nie ein rechtes Verhältnis gefunden hatte, war im politischen Chaos und wirtschaftliche Massenelend geendet. Nun ein neuer Staat, der Ordnung und Arbeit versprach und auch zu schaffen wusste, mit einer Staatspartei, die in ihrem Programm das Bekenntnis zum "positiven Christentum" führte, - das war eine Einladung, sich diesem neuen Staat erwartungsvoll zu öffnen und einen produktiven Platz in ihm einzunehmen, der überwältigende Jubel der Menschen über die neue Zeit gab dieser Einladung Nachdruck.
Viele Pastoren sahen im NS-Staat große volksmissionarische Möglichkeiten, und so machten sie willig und freudig mit und ließen an sich geschehen, was man Gleichschaltung nannte. Diese Gleichschaltung war in vielen Fällen eine Selbstgleichschaltung, und dass sie im Kern eine Ausschaltung, eine Zerstörung der Kirche und des christlichen Glaubens war, wurde erst allmählich und nicht allen klar.
Wie sich diese Gleichschaltung praktisch vollzog, konnte man gleichsam wie im Labor in der kleinen, sehr überschaubaren Lübecker Nachbarkirche verfolgen. Sie sollte möglicherweise wegen ihrer Überschaubarkeit in der NS-Kirchen- und Religionspolitik eine Vorreiter-Rolle spielen. Nachdem rollkommandoartig im März 1933 der SPD-Senat aus dem Rathaus vertrieben worden war, entdeckte der neue braune Senat seine alte summepiskopale Funktion wieder und berief einen 34jährigen Pastor aus Othmarschen, bekannt als überzeugter Nationalsozialist, als Bischof in ein neugeschaffenes Bischofsamt, das er straff nach dem "Führerprinzip" ausüben sollte, d.h. ohne Synode und kollegiale Einordnung. Die alte Lübecker Kirchenleitung mit einem Senior an der Spitze hatte dieser Entrechtung nichts entgegenzusetzen und sich selbst aufgelöst. Der in Lübeck bis dahin unbekannte Erwin Balzer stellte sich vor seiner Ernennung zum Bischof nicht zuerst kirchlichen Gremien vor, sondern dem Senat, dem Herrn des Verfahrens. Dort ist er immerhin nicht nur nach seiner Parteitreue gefragt worden, sondern auch nach seiner Theologie, und Balzer gab eine Antwort, die man klassisch nennen könnte, weil sie trotz ihrer Dummheit und Unverfrorenheit im Nukleus das enthält, was sich kurz darauf als Kirchenkampf entfaltete. Er sagte: "Meine Theologie ergibt sich aus der nationalsozialistischen Weltanschauung", also Gleichschaltung als ideologischer Schulterschluss, als Verzicht auf eine eigene theologische Stimme und als Außerkraftsetzung der eigenen Grundlagen. Damit war der Kampf ausgerufen, das musste Gegner auf den Plan rufen.
Karl Ludwig Kohlwage
Aus: Karl Ludwig Kohlwage, Manfred Kamper, Jens-Hinrich Pörksen (Hrsg.): "Was vor Gott recht ist". Kirchenkampf und theologische Grundlegung für den Neuanfang der Kirche in Schleswig-Holstein nach 1945. Dokumentation einer Tagung in Breklum 2015. Zusammengestellt und bearbeitet von Rudolf Hinz und Simeon Schildt in Zusammenarbeit mit Peter Godzik, Johannes Jürgensen und Kurt Triebel, Husum: Matthiesen Verlag 2015, S. 15 f.